Der anorektale Kontinenzapparat: Loblied auf ein Wunderwerk

Auch in diesem Jahr veranstaltete das Proktologische Zentrum Berlin seine „Aktuelle Proktologie“.1 Dort präsentierte Prof. Dr. med. Thilo Wedel (Kiel) Faszinierendes zum anorektalen Kontinenzapparat. Vielleicht für Sie eine Inspiration, diese proktologische Funktionseinheit Ihren Patientinnen und Patienten auch mal anders zu erklären?

Analer Sphinkterapparat: Dauerhafte Dichtigkeit für alle Aggregatzustände

In einer Special Lecture zum anorektalen Kontinenzapparat bekennt sich Anatomie-Experte Prof. Wedel als „Liebhaber dieser Region“ und teilt seine große Begeisterung für die „Ingenieurskunst“ des Anorektums.Zur Veranschaulichung führt er die unterschiedlichsten Anforderungen auf, die an die Funktionsweise des analen Sphinkter-Apparats gestellt werden:  

  • kontinuierliche Dichtigkeit für gasförmige, flüssige und feste Stoffe
  • kontrollierter Auslass für gasförmige, flüssige und feste Stoffe
  • Steuerung durch Autopilot
  • Kontrollübernahme möglich
  • Größe = Hühnerei
  • keine Störungen im Betriebsablauf
  • Betriebsdauer: 82 Jahre ≈ 30.000 Tage ≈ 10.000 – 30.000 Auslässe

Selbst hoch entwickelte Imitate wie z. B. Artificial Bowel Sphincter oder Magnectic Anal Sphincter Augmentation seien noch weit entfernt vom Original, betont Prof. Wedel voller Hochachtung vor dem „alltäglichen Wunderwerk“.

„Da unten vermählt sich was“

Diese blumige Beschreibung zum Aufbau des anorektalen Kontinenzorgans nutzt der Kieler Anatom in Anlehnung an die Darstellung von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Friedrich Stelzner, dem Nestor der deutschen Proktologie. Gemeint ist die anatomische Struktur des „viszeralen Individuums“, bestehend aus

  • Rektumampulle,
  • Hämorrhoidal-Plexus und
  • Sphincter ani internus (autonom).

Dieses viszerale Individuum verbindet bzw. „vermählt“ sich mit dem somatischen Individuum, bestehend aus

  • Beckenboden-Muskulatur und
  • Sphincter ani externus (willkürlich ansteuerbar).

Die Fusion beider Strukturen bildet zusammen mit dem hochsensiblen Anoderm den anorektalen Kontinenzapparat.

Abbildung 1: Aufbau des anorektalen Kontinenzapparats. Mod. nach [1]

Was haben Nase, äußere Genitale und Analkanal gemeinsam?

Die geneigte Leserschaft ahnt es sicherlich schon: Alle 3 anatomische Strukturen besitzen einen Schwellkörper. Die weitlumigen Blutgefäß-Strukturen befinden sie sich in Nasenschleimhaut, Corpus cavernosum penis und Hämorhoidal-Plexus und haben keine nutritive Funktion. Über ihre wechselnde Füllungszustände wärmen sie an, richten auf und dichten ab. Damit ist für Prof. Wedel auch schon die Brücke geschlagen zum Hämorhoidal-Plexus als zentralem und für die Feinkontinenz wesentlichem Bestandteil des anorektalen Kontinenzapparats.

Wie genial ist das denn, dass Blutgefäße auch zu ganz anderen Dingen verwendet werden können als nur für den metabolischen Zweck!
Prof. Dr. med. Thilo Wedel (Kiel)

Der Hämorhoidal-Plexus sitzt am Übergang zwischen Rektum und Analkanal. Der venöse Abfluss seiner Gefäßpolster führt durch den Musculus sphincter ani internus, einem weiteren Teil des anorektalen Kontinenzapparats. Dieser glatte Muskel besitzt einen hohen Ruhetonus, was zu einem mechanischen Abflusshindernis und so zu einem Anschwellen des Hämorrhoidalplexus führt. Über diesen myogenen Dauertonus werden 70 % der Kontinenzleistung erreicht. So kann die Feinkontinenz durch eine vollständige Abdichtung des Analkanals gewährleistet werden. Bei Stuhldrang (rektale Dehnung) kommt es über den rektoanalen Inhibitionsreflex zu einer Relaxation des Musculus sphincter ani internus. Dadurch wird der venöse Abfluss frei, die Schwellkörper entleeren sich und die Defäkation wird mit dem Abgang der Stuhlsäule möglich. Auch hier ist es für Prof. Wedel ein Wunderwerk, wie das Prinzip der physiologischen Schwellung dazu dient, die Feinkontinenz zu regulieren.

Anoderm: Das Sensibelchen im anorektalen Kontinenzapparat

Das Anoderm ist eine dünne, mit sensiblen Nervenenden ausgestattete Haut, die von außen nur wenige Zentimeter in den Analkanal hineinzieht, bevor sie innen in die Analschleimhaut übergeht. Die in einer außerordentlich hohen Zahl vorhandenen freien Nervenendigungen erfassen unterschiedlichste sensorische Reize: Berührung, Vibration, Druck, Reibung, Temperatur und Schmerz.

Anoderm: Äußerst anfällig für Schmerzen

  • Die sehr dichte Innervation der Analhaut wird nur von der Mundhöhle übertroffen.2 Selbst kleine Reize bzw. Beschädigungen können daher zu starken und sogar quälenden Schmerzen führen.2
  • Ein Riss im Anoderm ist eine Analfissur, die stechende Schmerzen bei der Defäkation verursacht. Welches Vorgehen diagnostisch angezeigt ist und was zur Schmerzlinderung führt, erfahren Sie hier.
  • Das Anoderm kann auch durch aggressive Waschsubstanzen oder Kosmetika gereizt werden und Schmerzsignale senden. Eine schmerzlindernde Behandlung der gereizten Analhaut kann mit u. a. mit Zäpfchen oder Salben erfolgen.

Aufgrund der hohen sensiblen Innervation ist die Analhaut in der Lage, zwischen Darmgasen und Fäzes zu differenzieren und auch die Konsistenz der Fäzes sicher einzuschätzen. Damit ist auch das Anoderm ein wichtiger Bestandteil des Kontinenzorgans. Dass die hohe Innervationsdichte mit einer sehr hohen Repräsentanz im ZNS einhergeht, konnte schon vor vielen Jahren über funktionelle MRT-Studien gezeigt werden. Für Prof. Wedel ist es daher naheliegend, die im Homunculus häufig fehlende proktologische Region gebührend zu berücksichtigen.

Quelle: Dr. Kade Health-Care